Der neue Law-and-Order-Fetischismus

 


Wir sind wir, die anderen sind der Feind: Deutsche Unionspolitiker kapern den Begriff "Rechtsstaat" und schaffen gefährliche politische Realitäten.

 

Mehr "Rechtsstaat" war nie. Dieser Eindruck erhärtet sich zumindest im Hinblick auf die politische Debatte. Namentlich Christsoziale und andere Unionsvertreter übertreffen sich derzeit mit inflationären Appellen an den "Rechtsstaat", dessen Handlungsfähigkeit sie von allen Seiten bedroht sehen. Durch vermeintlich nicht ausreichend überwachte Islamisten. Durch afrikanische Flüchtlinge, die sich in Ellwangen gegen die Polizei stellten und auf diese Weise eine Abschiebung verhinderten. Oder aber durch deutsche Anwälte, die Asylsuchende auf dem Rechtsweg vertreten und deshalb von Alexander Dobrindt (CSU)

 

flugs als "Saboteure" des Rechtsstaats denunziert wurden. Inzwischen intervenierte sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und wandte sich gegen das Narrativ vom "Scheitern" und "Versagen" des deutschen Rechtsstaats: ein indirekter Beweis dafür, wie sehr die Verfallserzählung dieser Tage von anderer Seite befeuert wird – nicht nur von der AfD, die seit Langem von "Rechtsbruch" spricht und nun sogar vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die "Grenzöffnung" von 2015 klagen will, sondern auch von Politikern der etablierten Parteien.

 

"Geht's auch 'ne Nummer kleiner?", fragte die ZEIT-ONLINE-Redakteurin Katharina Schuler hier unlängst. Die Antwort lautet: Natürlich ginge das. Es ist nur offenbar nicht gewünscht, denn der Rekurs auf den "Rechtsstaat" bringt handfeste strategische Vorteile: "Recht" und "Rechtsstaat" sind auratische Begriffe, die sich über die Fährnisse der Tagespolitik erheben und zivilreligiös aufgeladen sind. Zugleich ist "Rechtsstaat" ein positiv besetzter deutscher Erinnerungsort, der an die Geschichte des deutschen Liberalismus gemahnt – Traditionslinien von Hambach bis Weimar, die nach dem Ende der NS-Herrschaft zum Bezugspunkt des neuen bundesrepublikanischen Selbstverständnisses avancierten.

 

 

Kulturkampf der "Mitte"

 

 

Wer hier andockt, verschafft sich nicht nur höhere legitimatorische Weihen. Er löst sich zugleich von der Pflicht, "Sachargumente vor(zu)bringen", wie Daniel Thym in seiner Replik auf die "Erklärung 2018" schrieb. Doch die exzessive Bezugnahme auf den Rechtsstaatsbegriff in der aktuellen Debatte um Flüchtlingspolitik und Innere Sicherheit hat noch weiterreichende Dimensionen: Sie dient als symbolische Waffe in einem Kulturkampf, der sich mit konservativ-autoritärer Stoßrichtung gegen den politischen Liberalismus richtet – und dabei klassisch "liberale" Topoi im Sinne der eigenen Interpretation aushöhlt, verkürzt und umdeutet.

 

 

Sprachliche Kapermanöver dieser Art gelten als typische metapolitische Strategie der Neuen Rechten. Doch das Bestreben, den "Rechtsstaat" im autoritaristischen Sinne neu zu rahmen und seine vermeintliche 68er-Version abzuwickeln, hat längst auch Teile der bürgerlichen "Mitte" erfasst. Der gegenwärtige Deutungsstreit ruft dabei jäh ins Bewusstsein, dass der bloße Begriff "Rechtsstaat" semantisch weitaus instabiler und historisch stärker umkämpft ist, als es das vorherrschende bundesrepublikanische Verständnis nahelegt.

 

 

 

Autoritärer "Rechtstaat" versus liberaler "Rechtsstaat"

 

Schon der Staatsrechtler Carl Schmitt entwickelte in den 1920er-Jahren ein autoritäres "Rechtsstaats"-Modell, das die liberalen Vorstellungen seiner Weimarer Zeitgenossen fundamental infrage stellte: Da sich Politik nach Schmitts Logik wesentlich in Freund-Feind-Bestimmungen verwirklichte, konnte er auch den "Rechtsstaat" nur im Rahmen konfrontativer Konfliktsituationen fassen. Letztlich, so schreibt er in Der Begriff des Politischen, hätten sämtliche politischen Schlüsselworte einen kämpferischen ("polemischen") Charakter. Sie blieben "unverständlich", solange man nicht wisse, wer durch sie "getroffen, bekämpft, negiert und widerlegt werden" solle.

 

 

Von hier aus konstruierte Schmitt das Ideal eines starken Staats, der innerhalb seines Territoriums für "vollständige Befriedung" sowie "Ruhe, Sicherheit und Ordnung" sorgt – notfalls ("in kritischen Situationen"), indem er selbst den inneren "Feind" bestimmt und damit seine politische Souveränität bekundet.

 

Echos jenes kämpferischen "Rechtsstaats"-Konzepts hallen dieser Tage auf beunruhigende Weise in den Äußerungen von CSU-Politikern wie Horst Seehofer oder Alexander Dobrindt und anderen Vertretern des rechten Unionsflügels wider. Der "autoritäre Liberalismus", den Schmitt und andere "konservative Revolutionäre" in den 1920er-Jahren als radikale Antwort auf die Instabilität der Weimarer Republik und die Fliehkräfte ihrer Zeit entwickelten, kehrt im Zuge der Globalisierungsverunsicherung unter verändertem Vorzeichen in die Debatte zurück – befeuert von neuen "Krisen"-Erzählungen, die staatlichen Kontrollverlust im Angesicht von "Massenmigration", "Terror" und "Kriminalitätszuwachs" beschwören.

 

 

Vor dieser zum Popanz stilisierten Gefahrenkulisse nimmt der autoritäre "Rechtsstaats"-Diskurs eine folgenschwere semantische Verschiebung vor: Er verengt die Idee "Rechtsstaat" auf die Durchsetzung von Staatsgewalt im Namen von Sicherheit und Ordnung, während der Schutz des Einzelnen vor staatlicher Willkür und die staatliche Pflicht zur Garantie individueller Freiheitsrechte – zwei Kernelemente des liberalen Rechtsstaatsbegriffs – in den Hintergrund treten und zunehmend als hinderlich wahrgenommen werden.